Ursula Meyer
Rosen aus Münster
Sieglinde Zürichers dritter Fall
2001, Waxmann Schwarze Serie, 2. unveränderte Auflage, 260 Seiten, broschiert, 12,70 €, ISBN 978-3-89325-920-5
Der Todesfall der Rosenzüchterin Helene Abraham stellt Sieglinde Züricher, Hauptkommissarin bei der Münsteraner Polizei, zunächst vor ein großes Rätsel und eine schweigsam-verbohrte Altenclique. War es am Ende doch ein Selbstmord? Welchen Grund gab es, eine alte Frau in ihrem Bett zu ersticken? Je mehr Sieglinde recherchiert, desto klarer wird, dass das Motiv in der Vergangenheit zu suchen ist, einer Vergangenheit, an die keiner mehr rühren wollte ...
Leseprobe
"Der Tod dieser Patientin geht mir ganz besonders nahe", sagte Frau Dr. Müller-Liebermann, während ich auf ihrem Besuchersessel Platz nahm und sie auf die Akte wartete, die die Helferin hereinbringen sollte. "Wie, sagten Sie, ist es passiert?"
"Das steht noch nicht fest. Nur, dass sie wahrscheinlich nicht ertrunken ist. So weit ich das beurteilen konnte, war kein Wasser in den Lungen. Demnach ist es zum Atemstillstand gekommen, zum Schlaganfall oder Herzinfarkt." "Ende August war sie noch bei mir, um sich komplett durchchecken zu lassen. Das machte sie jedes Jahr ..." Sie nahm der Helferin den Ordner ab und begann zu blättern. "Das Normale EKG ... in Ordnung; das Belastungs-EKG ... ebenfalls. Das Blutbild", sie machte eine fahrige Handbewegung - "sie hatte einen leichten Eisenmangel, aber das kommt bei Vegetariern öfter vor, und er war nicht dramatisch. Der Harn ..." wieder flatterte ihre Hand, "ohne Befund ... Nein, ich sehe auch jetzt absolut keinen Hinweis auf einen bedrohlichen Zustand. Ihr Blutdruck", zählte sie weiter auf, "war eher zu niedrig, der Cholesterolspiegel normal, sie war nicht übergewichtig, hatte viel Bewegung ... Keiner der Risikofaktoren traf auf sie zu."
"Rauchte sie?"
"Nein", sagte die Ärztin, ohne den Kopf von ihren Unterlagen zu heben.
"Und ihr psychischer Zustand?"
"Auch der ...", sie schüttelte den Kopf. "Natürlich fällt der Entschluss, in ein Altenheim zu gehen, nicht leicht, vor allem, wenn man eigentlich noch zu jung ist."
Ich schätzte, dass die Ärztin annähernd der gleiche Jahrgang wie die Tote war und sich in die Zweifel und Bedenken, die mit dem Einzug ins Altersheim verbunden waren, sicher besser hineinversetzen konnte als eine wesentlich Jüngere. Ich erzählte ihr von dem Apartment mit eigenem Garten, und sie nickte.
"Dann war es also deswegen. Um ehrlich zu sein, ich habe mich gewundert, dass sie so früh ihre Unabhängigkeit aufgeben wollte."
"Hat sie mit Ihnen nie darüber geredet?"
"Sie erwähnte die Sache beiläufig, als sie im August hier war. Sie sagte, dass dieser Termin ihr letzter vor dem Umzug sei. 'Ich hoffe, Sie gewöhnen sich schnell ein', sagte ich. Und sie sah mich an und fragte: 'Glauben Sie, dass ich mich nicht eingewöhnen kann?'"
"Hat sie das gesagt?"
"Wortwörtlich!" gab sie zurück. "Und dann drückte sie mir die Hand und sagte: 'Nächsten August sehen wir uns wieder.'"
"Seit wann kannten Sie Frau Abraham?"
"Seit ihrer Pensionierung. Bis dahin hatte sie in einer Apotheke gearbeitet. Mit sechzig hörte sie auf. Sie hatte Arthrose in den Fußgelenken und das dauernde Stehen fiel ihr schwer. Außerdem wollte sie wohl noch ein bisschen was vom Leben haben. Von da an kam sie einmal im Jahr zu mir."
"Hat sie mal von ihrer Schwester erzählt?"
"Nein, nie. Von ihrer Familie weiß ich nichts. Natürlich interessieren mich die Lebensumstände meiner Patienten, andererseits habe ich nicht sehr viel Zeit für persönliche Gespräche, leider nicht! Warum fragen Sie?"
Ich erzählte ihr von den ursprünglichen Plänen der Toten und der Absage der Schwester. Sie nickte: "Natürlich ist es enttäuschend, wenn die engste Verwandtschaft einen im Stich lässt. Aber wenn Sie mich nach meinem Eindruck fragen: ich glaube, sie konnte mit ihrem Entschluss leben."
"Und warum dann diese Bemerkung?"
"Ich habe sie nicht ernstgenommen", entgegnete sie, "damals nicht!"
"Und heute? Könnten Sie sich einen Selbstmord vorstellen?"
Sie dachte kurz nach. "Wer kann sich schon in einen anderen Menschen so hineinversetzen, dass er ihn wirklich versteht? Und wer legt sein Ich so offen, dass andere ihn verstehen können? Wir haben doch alle unsere Masken und Verhaltensmuster, wir wollen ja gar nicht, dass man uns so genau kennt! Möglich, dass sie Angst vor der Zukunft hatte und ihre Befürchtungen dann bestätigt sah."
"Die Endstation", sagte ich.
Sie sah mich schweigend an, und ich fuhr fort: "Wenn jemand mit dem Gedanken gespielt hat, sich in Venedig niederzulassen, weil die Schwester dort lebt oder mit der Schwester ein gemeinsames Leben hier, in Münster, aufzubauen, dann erscheint einem das Altersheim wahrscheinlich als Endstation."
"Vielleicht", gab sie nachdenklich zurück. "Erfahre ich, wie der Befund der Pathologen lautet?"
"In Ordnung", sagte ich und drückte ihr die Hand.
Pressestimmen
Ursula Meyer ist neben Jürgen Kehrer die produktivste und qualitativ beste Verfasserin von Lokalkrimis aus Münster (...). Ihre Romane zeichnen sich durch genaue Ortsbeschreibungen und gute Charakterisierungen aus. Geschickt legt sie mehrere falsche Fährten. Kennzeichen ihrer Romane sind jeweils eine Dienstreise von Sieglinde Züricher (...) und eine literarische Anspielung.
Jost Hindersmann in: Lexikon der Kriminalliteratur. 40. Erg.-Lfg. 02/2003.