Die Straße

Noah Lasman

Die Straße

Erinnerungen eines jüdischen Zwangsarbeiters an eine "ganz normale Firma"

1999,  160  Seiten,  E-Book (PDF),  15,30 €,  ISBN 978-3-8309-5706-5

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Noah Lasman gelingt es, in ruhiger, fast nüchterner Ausdrucksform ein Erleben zu berichten, das im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreibbar ist. Dem Autor geht es um Informationen über die Arbeitslager deutscher Straßenbaufirmen, die im von deutschen Truppen besetzten Polen eingerichtet worden waren.

Der Dokumentarbericht bezieht sich auf die Zeit von 1941–1943, die der polnische Jude Noah Lasman im Lager 4185 der Firma Wolfer & Goebel, Stuttgart, verbringen mußte. Die SS hatte die vorher in örtlichen Ghettos zusammengepferchte jüdische Bevölkerung nach Verwendbarkeit sortiert und die Arbeitsfähigen gegen Entgelt an deutsche Firmen ausgeliehen. Diese Arbeitskräfte wurden in der Nähe der jeweiligen Straßenbaustelle in Barackenlagern unter kaum vorstellbaren Bedingungen gehalten.

Noah Lasman ist vermutlich der letzte Insasse des Lagers 4185 in Siedlce in Polen, der über diesen Bereich der Zeitgeschichte berichten kann. Daraus ergibt sich die Bedeutung dieses Buches – nicht nur für die nachfolgenden Generationen.

Die Straße ist bereits in hebräischer und polnischer Sprache erschienen.


Leseprobe

(...) Die auf uns wartenden Soldaten von der Lagerwache und die jüdischen Polizisten ließen uns in drei Reihen Aufstellung nehmen, was ziemlich lange dauerte. Ein groß gewachsener Mann in Zivil mit der Haltung eines Berufsoffiziers kam heran. Nach Monieks Beschreibung mußte dies der Lagerkommandant sein. Einen Augenblick betrachtete er uns schweigend und brüllte dann plötzlich: "Hinlegen, Scheißkerle!"

Wir warfen uns flach in den Schnee, und es wurde still. Einen Moment schaute er auf uns herab, wie wir da lagen, dann befahl er den Polizisten: "Tretet ihnen die Ärsche in den Dreck!"

Die Polizisten gingen die Reihen entlang, und wiesen uns an, den Körper enger an den Boden zu drücken und sich hin und her zu rücken, bis die Reihe ausgeglichen war. Schließlich erklärte uns der Lagerkommandant, dessen herrische Stimme verriet, daß er ans Befehlen gewöhnt war, wir hätten großes Glück, daß die Firma "Wolfer & Goebel" uns Arbeit und Schutz angeboten habe. Hier würde man uns lehren, was uns unsere Eltern nicht beigebracht hätten - nämlich arbeiten. Jeden Tag nach der Arbeit würden wir ins Lager unter seine Aufsicht zurückkehren; er bestimme hier, wann, wie und was wir tun sollten. Es sei verboten, sich laut zu verhalten; hier sei kein Jahrmarkt. Wir würden zeitig aufstehen und zum Appell antreten, auf Kommando zu essen beginnen und aufhören, wenn das Signal käme. Dann würden wir in drei Reihen antreten und schweigend auf die Befehle warten. Wir seien verpflichtet, eine beispielhafte Körperhygiene und Sauberkeit der Räume einzuhalten, und müßten immer rasiert sein. Er mache keinen Spaß, jeder nicht befolgte Befehl würde mit dem Tode bestraft. Wir würden in Gruppen aufgeteilt, die während der Arbeit den Baumeistern unterstünden. Es gäbe hier grundsätzlich keine Kranken, alle müßten arbeiten. Die Zeiten seien vorüber, daß die Juden müßiggingen. Falls jemand eine Beschwerde oder Bitte haben sollte, müsse er sich an den Judenältesten wenden.

Damit war seine Ansprache beendet. Wir durften aufstehen, uns umdrehen und das Lager betrachten. Es war ein Rechteck, 200 x 300 Meter groß, von einem hohen, doppelten Stacheldrahtzaun umgeben, mit Wachtürmen an den Ecken. Das Lager bestand aus mehreren Reihen langer Baracken, die rechtwinklig zur Landstraße standen und rein und steril aussahen. Breite, jetzt verschneite Durchgänge zogen sich dazwischen hin. Alle Baracken hatten Schornsteine, aus denen aber kein Rauch aufstieg. Es gab nur einen Eingang ins Lager - das Tor, vor dem wir jetzt standen. Vor dem Lager, nicht weit vom Eingang, standen einige hölzerne Fertigbauhäuschen. In einem befand sich die Wache; in den Fenstern der anderen konnten wir Gardinen sehen, was bedeutete, daß dort die zivilen Angestellten des Lagers wohnten.

Wir stellten uns in einer Reihe zur Registrierung auf. Leute, die zusammen sein wollten, versuchten, nahe beieinander zu stehen. Es ist immer besser und tröstlicher, mit denjenigen zusammen zu sein, die man kennt. Ich hielt mich an Zalusch, obwohl ich wußte, daß wir getrennt würden. (...)

Pressestimmen

[... ] Lasmans Erinnerungen [haben] keinen geringen Anteil daran, die Geschichte der in Osteuropa besonders grausam behandelten Zwangsarbeiter vor dem vergessen zu bewahren. [...] Der Verfasser konzentriert sich auf die Wiedergabe des historischen Geschehens. Über den Überlebenden, der seine Familie verlor und im Jahre 1957 nach Israel emigrierte, erfährt man kaum etwas. Diese Leerstelle macht den Bericht auch zu einer Quelle über die dem Holocaust folgenden Traumata. Schließlich sollte man nicht vergessen, daß die Leidensgeschichte der Überlebenden mit ihrer Befreiung nicht endete.
Aus: Militärgeschichtliche Zeitschrift. 60(2000), S.224.

" Die Bilanz eines Zwangsarbeiters bei einer Stuttgarter Firma. (...) Noah Lasman ist einer (...) [der] Überlebenden: ein polnischer Jude, der seine Erfahrungen mit der "ganz normalen Firma" Wolfer & Goebel, seine Erinnerungen an das Arbeitslager Nummer 4185 aufgeschrieben hat. (...) Lasman selbst konnte entkommen. Drei Jahre lang hat er sich in einer Waldhöhle versteckt. Nach dem Krieg emigrierte er nach Israel. 1987 hat der Geologe in Stuttgart die Zentrale seines früheren Zwangsarbeitgebers aufgesucht, wurde dort höflich abgewimmelt (...) Lasman beschreibt seine Erlebnisse in nüchternen Worten. Sein Ton ist weder larmoyant oder gar anklägerisch. Er verschweigt auch nicht Erlebnisse mit Deutschen, die sich ihm gegenüber anständig verhalten haben, weiß aber auch von Polen zu berichten, die sich ebenso schlimm wie die Nazis benahmen."
(Stuttgarter Zeitung. Nr. 274 vom 26.11.99. S. 18)

"Die Diskussion um die Entschädigung von Zwangsarbeitern hat etwas Würdeloses. Vielleicht der passende Augenblick, sich den nüchternen Bericht eines Betroffenen einmal zu Gemüte zu führen."
(Münstersche Zeitung, 13. Dezember 1999)