Interview mit Prof. Dr. Kira Funke anlässlich des 100. Geburtstags von Paulo Freire

Frau Dr. Kira Funke ist Professorin für Soziale Arbeit und Pädagogik der Kindheit an der IU Internationalen Hochschule in Düsseldorf und hat sich in ihrer Promotion mit Paulo Freire, seinem Werk, seiner Wirkung und seiner Aktualität auseinandergesetzt.

Paulo Freire würde in diesem Herbst 100 Jahre alt werden. An was denken Sie zuvorderst, wenn Sie an das gedankliche, aber auch praktische Erbe von Paulo Freire denken? Welche Aspekte sind heute noch besonders interessant an seinem Denken und Handeln?

Paulo Freire hat eine einzigartige Leistung vorgelegt hinsichtlich der kreativen Synthese unterschiedlicher Denktraditionen und vor allem deren praktischer Umsetzung. Die Kombination von Ideen des freiheitlich orientierten Sozialismus bzw. später, radikaler Demokratie, mit christlich eingefärbten Motiven wie Liebe und Hoffnung, waren bei Freire kein Widerspruch, sondern eine fruchtbare, praxisorientierte und für andere zutiefst motivierende Beschreibung von und auch Anspruch an Erziehung und Bildung. Diese Ideen wirken bis heute nach, auch wenn Freire immer im Kontext seiner Zeit gelesen und verstanden werden muss. Sein radikal formuliertes Ziel des Dialogs, der Beteiligung aller – bis hin zur deutlichen Parteinahme für marginalisierte, benachteiligte, wenig gesehene oder gehörte Personen und Personengruppen – und der aktiven Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit sind bis heute hochaktuell.

 

Wie schätzen Sie den Einfluss Freire auf das erzieherische und bildnerische Handeln heute in Deutschland ein?

Paulo Freires Einfluss sollte nicht unterschätzt werden, da viele Ideen und Grundsätze Einzug in pädagogisches Denken und Handeln in Deutschland gefunden haben, wenn auch ohne, dass Freire in jedem Falle als Quelle und Bezugspunkt explizit erwähnt wird oder nachvollzogen werden kann. Freire hat seit Anfang/Mitte der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum eine hohe Resonanz zunächst vor allem in der Sozialen Arbeit erzeugt, vermittelt über den Fokus der kirchlichen sozialen Arbeit, der sogenannten „Eine Welt“-Initiativen und der Arbeit mit und für Migrant*innen und geflüchtete Menschen. Als zentraler Bezugspunkt etablierte sich hier vor allem die Subjektorientierung – und damit der Anspruch, auf Augenhöhe und im Dialog mit den entsprechenden Personen an der Gestaltung ihres Alltags und ihrer Lebenswirklichkeit zu arbeiten. In dieser Zeit fiel die Botschaft Freires im deutschsprachigen Raum auch aufgrund der politischen Entwicklungen – Stichwort 68er Bewegung - auf fruchtbaren Boden. Freires Denken hat in der Folge teilweise auch im Diskurs der Hochschulen Einzug gefunden, so dass seine Ideen durch von ihm inspirierten akademischen Austausch, Lehre und durch praktische Anwendung rezipiert und weiterentwickelt wurden. Heute sind Grundsätze wie demokratisch-dialogisches Handeln in Erziehung und Bildung (sowohl im formalen als auch im non-formalen Kontext), die Orientierung an den Interessen, Kompetenzen und an der Lebenswelt der Adressat*innen und deren Partizipation Grundbausteine im Schulwesen und bspw. in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, die auch gesetzlich festgeschrieben sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie immer konsequent umgesetzt werden.

 

Wenn Sie den Blick in die Zukunft lenken: Aus welchen Gründen halten Sie Paulo Freire bis heute für relevant und in welchen Bereichen sollten seine Ideen/Theorien Anwendung finden?

Paulo Freire hat sich insbesondere dafür eingesetzt, dass Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben, ihre Lebensrealität zu reflektieren und sie nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu gestalten – gemeinsam und im Dialog mit anderen. Freire war damit ein Vordenker der Idee der Ko-Konstruktion von Wirklichkeit durch miteinander in Interaktion und Kommunikation befindliche Subjekte. Seine Vorstellung von Erziehung und Bildung ist damit stets eingebettet in eine Rahmung aus Veränderungsanspruch und gesellschaftlicher Verantwortung. Dieser Aspekt ist auch gegenwärtig von großer Relevanz. Wenn wir den Blick auf die Bedrohung durch den Klimawandel und die Zerstörung der Natur richten, stellen wir nicht nur fest, dass seitens der politischen Entscheidungsträger*innen notwendige Veränderungen nicht nur nicht, oder nicht ausreichend, umgesetzt werden, sondern dass Stimmen von jungen Menschen, die für ihre Zukunft und den Erhalt ihrer Lebensgrundlage kämpfen, aber auch von anderen engagierten Personen und Wissenschaftler*innen nicht ausreichend gehört und vor allem nicht ausreichend ernst genommen werden. Von einem Dialog auf Augenhöhe und einer Anerkennung des Rechts eines jeden Menschen, Verantwortung für das Leben als Individuum und in der Gemeinschaft zu übernehmen, sind wir in der Praxis weit entfernt. Hier wäre bspw. ein Austausch zwischen den Generationen, aber auch von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen und Funktionen – z.B. Schüler*innen, Politiker*innen, Unternehmer*innen in einem echten und ernstgemeinten Dialog, der auch in praktische Relevanz mündet, wichtig.

 

In welchen schulischen oder außerschulischen Bereichen sehen Sie ganz konkrete Möglichkeiten, diese Ansätze zu realisieren?

Auch für die zunehmend in Deutschland sich weiter entwickelnde Ganztagsschule sind die Ideen Freires besonders interessant. In einer ganztägigen Bildungseinrichtung muss die Frage, wie alle gemeinsam lernen und Schule als einen Ort von gelebter Demokratie und Dialog verstehen und gestalten können, ins Zentrum gerückt werden. Schule wird hier nicht nur zu einem Ort persönlicher Bildungsbiografien und sozialer Interaktion, sondern auch zu einem Lebensraum mit gesellschaftlicher Verantwortung. Obwohl dies bereits häufig in den Konzepten, Leitlinien und gesetzlichen Rahmungen festgeschrieben ist, gibt es hier in der Praxis oft noch Entwicklungsbedarfe. Dieser Lebensraum erfordert die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, Vertrautes zu hinterfragen, Risiken einzugehen und Schule im Ganztag immer wieder weiter zu entwickeln – gemeinsam vom multiprofessionellen Team, den Schüler*innen, Eltern, Akteur*innen im Sozialraum, politischen Entscheidungsträger*innen, der Verwaltung und weiteren mehr. Freire hat uns dafür viele theoretische und praktische Inspirationen mit auf den Weg gegeben. Ich selbst bspw. nehme in meiner praktischen Tätigkeit soweit wie irgend möglich eine von Freire inspirierte Sichtweise ein – sei es in meinen Lehrveranstaltungen an der Hochschule im Dialog und in der Zusammenarbeit mit den Studierenden, oder sei es in der Beratung und Prozessbegleitung von Kölner Grundschulen, die sich auf den Weg gemacht haben, ihre Schule zu einem Ort des Lebens und Lernens aller weiterzuentwickeln.

Paulo Freire
Unterdrückung und Befreiung
2007, 140 Seiten, br., 9,90 €, ISBN 978-3-8309-1803-5

Diese Sammlung von Schriften aus der Zeit von 1970 bis 1990 des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (1921–1997) gibt einen Einblick in die Grundlagen und Prinzipien seiner Bildungsarbeit auf der Basis der Pädagogik der Befreiung. In den ausgewählten Texten werden nicht nur pädagogische Probleme und inhaltlich-methodische Fragen der Bildungsarbeit thematisiert. Sie enthalten ebenso Analysen und Bewertungen von Politik, Kultur, Religion, Ethik und Veränderungsmöglichkeiten von Gesellschaft - eine Erweiterung, die sich gegen eine Vorstellung wendet, Pädagogik sei von Gesellschaft und Politik losgelöst zu behandeln. Scharfsinnig hat Freire u.a. die verheerenden Folgen des Neoliberalismus für Individuum und Gesellschaft analysiert und zum widerständigen Denken und Handeln ermuntert.

Kira Funke
Paulo Freire
Werk, Wirkung und Aktualität
2010, Interaktionistischer Konstruktivismus, Band 9, 340 Seiten, br., 39,90 €, ISBN 978-3-8309-2355-8

Freires Biografie, ein Abriss brasilianischer Geschichte sowie ideengeschichtliche Bezugspunkte Freires, die es erlauben, Freires Denken zu kontextualisieren und tiefer zu verstehen, leiten diese Arbeit ein. Paulo Freires Menschen- und Gesellschaftsbild sowie seine Pädagogik in Theorie und Praxis stellt die Autorin in der Folge umfassend und klar strukturiert dar. Sie geht hierbei auf Freires Gesamtwerk ein und legt damit eine Einführung in das Denken Freires vor, die in dieser Vollständigkeit bisher nicht vorhanden ist.

Die Arbeit ist umfassend begründet, systematisch differenziert, sprachlich sehr gut und präzise angelegt, innovativ und einschlägig. Sie stellt ein wichtiges Grundlagenwerk zum Klassiker Paulo Freire dar.

Kersten Reich

Paulo Freire
Pädagogik der Autonomie
2008, 132 Seiten, br., 9,90 €, ISBN 978-3-8309-1870-7

Dieser Band, das letzte von Paulo Freire selbst veröffentlichte Buch, erscheint erstmals als deutsche Übersetzung. Im Original im September 1996 erschienen, kann es als zusammenfassende Darstellung seines gesamten Werkes verstanden werden.
Paulo Freire rückt die Schule, die Situation der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte ins Zentrum der Betrachtungen. Konsequent verbindet er Gesellschaftsutopie, Bildungstheorie und Erziehungspraxis, um auf die für Lehrkräfte notwendigen Kompetenzen hinzuweisen, die für eine kritische, reflektierende Lehr-Lern-Praxis benötigt werden.