Die Vergleichende Erziehungswissenschaft sieht sich – ebenso wie die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen, einschließlich der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, zu welcher die Vergleichende in Deutschland organisatorisch und inhaltlich traditionell in enger Beziehung steht – vor eine Reihe neuer Herausforderungen gestellt, die in der Reihe
New Frontiers in Comparative Education exemplarisch adressiert werden. Die Metapher der Frontier, der Grenze, ist dabei nicht zufällig gewählt. Kaum ein anderer Begriff bringt so pointiert die Frage nach der Entstehung und Veränderung von Räumen – materiellen wie ideellen, realen wie imaginären – zum Ausdruck. Dabei erschöpft sich die Betrachtung nicht im „spatial turn“ der Erziehungswissenschaft, denn es geht zwar auch darum zu erkunden, was Begriffe wie „neue Bildungsarenen“ oder „gemeinsamer Europäischer Bildungsraum“ bedeuten, aber ebenso um die Dynamiken von Verflüssigungs- und Festigungsbewegungen, die Grenzen entstehen lassen und verändern. Dies betrifft die disziplinären Grenzen ebenso wie die Beziehungen der (Vergleichenden) Erziehungswissenschaft zu anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Wenn in der Subdisziplin oder dem Feld (je nach Betrachtungsweise) der Vergleichenden Erziehungswissenschaft diese Veränderungen besonders deutlich werden, so deshalb, weil sich ihr Gegenstandsbereich, das „Internationale“, in einem fundamentalen Wandel befindet. Über weite Strecken ihrer Geschichte hat die Vergleichende Erziehungswissenschaft den Nationalstaat als Analyseeinheit privilegiert; sie war in ihren politischen und wissenschaftlichen Dimensionen an der Nahtstelle oder „Grenze“ zwischen „innen“ und „außen“ angesiedelt unter dem Primat der von Mitter pointiert formulierten „nationalen Bildungssouveränität“. Schlagworte wie Globalisierung, Inter- bzw. Transnationalisierung sprechen an, dass diese scheinbar so klaren und eindeutigen Relationen zwischen Staaten und ihren Bildungssystemen problematisch geworden sind. Wissenschaftler wie die Kollegen am Center for Globalization Studies an der University of Bristol sprechen daher von
Rescaling und meinen damit, dass die bildungsrelevanten Bezugseinheiten unter dem Vordringen der globalen bzw. transnationalen Ebene neu justiert werden. Dies bedeutet nicht, dass der Nationalstaat als Bezugsgröße seine Bedeutung verlöre, sondern dass die Relationen und Interdependenzen zwischen den einzelnen Ebenen komplexer und komplizierter werden, weil es sich nicht um einen Durchgriff der höheren Ebene auf die „niedere“, etwa von der transnationalen auf die nationale handelt, sondern um komplizierte Wechselbeziehungen, die ebenso umgekehrt von der regionalen oder nationalen auf die supra- oder transnationale wirken können. Die Unterscheidung zwischen den Ebenen ist also nicht hierarchisch, sondern systematisch zu verstehen. Diese komplexen Beziehungen sind eng verbunden mit neuen Formen politischer Gestaltung von Bildung und Erziehung, die zurzeit unter dem nicht unproblematischen Begriff der
educational governance diskutiert werden und für die Marcelo Parreira do Amaral, mit dessen Dissertation die Schriftenreihe eröffnet wird, den Begriff des internationalen Bildungsregimes veranschlagt.
Ist die im ersten Band adressierte zentrale Herausforderung für die Vergleichende Erziehungswissenschaft, eine der
new frontiers, in den Konsequenzen von politischen Rescaling-Prozessen begründet, so hat der zweite Band mit dem Titel
Vergleichende Erziehungswissenschaft – Grundlegende Zugänge und aktuelle Forschungsfelder das Anliegen, theoretische und methodologische Vergewisserungen mit der Präsentation neuer Forschungsdiskussionen zu verbinden. Bei der Auswahl wurde bewusst auch auf außereuropäische, hier besonders auf süd- und lateinamerikanische Beiträge zurückgegriffen, um damit den Facettenreichtum der internationalen Entwicklungen in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft einem deutschsprachigen Fachpublikum zugänglich zu machen. Der Band bezieht ausdrücklich Studierende mit ein, weil er keine differenzierten Kenntnisse der Vergleichenden Erziehungswissenschaft voraussetzt.
Der dritte der bislang geplanten Bände mit dem Titel:
Beschleunigung und Verdichtung: spätmoderne gesellschaftliche Erziehungsverhältnisse nimmt neben der in der Globalisierungsdiskussion impliziten Frage ‚räumlicher‘ Grenzen die zeitliche Dimension mit auf und betrachtet die Veränderungen aus der Perspektive eines Epochenwandels von der klassischen Moderne zur Spätmoderne. Ähnlich wie am Beispiel der räumlichen Veränderungen, so verdeutlicht auch die Epochenfrage eine Suchbewegung in der wissenschaftlichen Diskussion, die sich beispielsweise im Begriffspaar Post- bzw. Spätmoderne niederschlägt. Die Präferenz für den Begriff der Spätmoderne ist darin begründet, dass hier dem Aspekt der Kontinuität besser Ausdruck verliehen wird: Der Wandel von der Moderne zur Spätmoderne wird im Sinne Alexis de Tocquevilles nicht als revolutionär, sondern als evolutionär verstanden, nicht als radikaler Bruch, sondern als Radikalisierung bestimmter in der westlichen Moderne angelegter Tendenzen, die durch globale Interaktionsverdichtungen neu akzentuiert und kontextuiert werden. Im Zentrum steht eine vergleichende Betrachtung der Folgen dieser Veränderungen für Konzeption und Organisation von Bildung und Erziehung.
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