Ursula Meyer
Der Tod kennt keinen Stundenplan
Sieglinde Zürichers siebter Fall
2006, Waxmann Schwarze Serie, 320 pages, paperback, 12,70 €, ISBN 978-3-8309-1600-0
Leseprobe
Bis an einem Sonntagmittag Anfang Oktober Kerstin die Gabel sinken ließ und mit jener Weltuntergangsmiene, die normalerweise schlechte Schulnoten ankündigte, sagte: „Der Nachbar nebenan hat vor acht Jahren seine Frau erschossen.“ Während Franz unbeeindruckt weiter an seinem Schnitzel säbelte, hörte ich auf zu essen. „Wer behauptet denn das?“
„Greta“, Kerstins Antwort zischte, als würde ein Streichholz angeratscht. „Der Mörder hieß Olaf Degenhart, dieser Name steht an dem mittleren Haus. Greta sagt, mit uns tauschen möchte sie nicht.“
„Und woher hat Greta ihre Neuigkeiten?“
„Von ihrer Mutter, nehme ich an.“ Gretas Mutter, Carola Hellmann, war Redakteurin einer Frauenzeitschrift. Obwohl sie über Ehe- und Erziehungsprobleme schrieb, war es möglich, dass sie mehr Zugang zu brisanten Nachrichten besaß als wir. Schließlich hatten wir vor acht Jahren noch gar nicht in Münster gewohnt.
„Weißt du, Schätzchen“, ich nahm meine Gabel wieder auf, „es gibt drei Möglichkeiten: Entweder hat Herr Degenhart seine Frau erschossen und seine Strafe abgesessen oder er ist unschuldig, dann vergisst du Gretas Gerede am besten. Oder, noch eleganter: Unser Nachbar ist nur ein Namensvetter.“
„Kannst du nicht mal alte Akten wälzen?“
Woher diese Ausdrucksweise und wozu diese Frage? Damit sie ihre beste Freundin mit Polizeiinformationen beeindrucken konnte? Damit sie in Herrn Degenharts Nachbarschaft besser schlief? Eins ihrer Mansardenfenster zeigte auf sein Dachgeschoss. Ich nahm mir vor, mit dem Kollegen Lückmann zu reden.
Das Tischgespräch hatte zur Folge, dass ich, anfangs widerstrebend, dann von wachsendem Interesse getrieben, die Unterlagen zum Fall Olaf Degenhart durchackerte. Es handelte sich tatsächlich um den Mann von gegenüber, auch wenn er seinen Vollbart nicht mehr trug. Aus dem Handelsregister erfuhr ich, dass er seine Arbeit als Verleger von Lyrik und Reiseführern wieder aufgenommen hatte – wenn auch unter dem neuen Namen Edition Bisping. Neu war auch die zusätzliche Spezialisierung auf Kunst- und Bildbände.
Zwei Wochen später begegnete ich ihm, als er aus seinem noch nicht fertig gestellten Haus kam; ein großer, etwas kastig wirkender Mittfünfziger mit Adlernase, markantem Kinn und vollem, graumeliertem Haar. An der Haustür drehte er sich um und rief etwas ins Innere, das verärgert klang. Er riss sich unwirsch den Mantel von der Schulter, knallte ihn auf den Rücksitz seines schwarzen Omega und jagte über aufspritzenden Schotter davon.
Jetzt war mein Spürsinn voll erwacht. Vor allem, als ich über die restlichen Nachbarn Daten zugesteckt bekam, ohne danach gefragt zu haben. Am mitteilsamsten war Bella, die zu dem weiblichen Trio in Haus A gehörte, dem nördlichsten an der Hauptstraße. Nur die Vornamen standen neben dem Klingelknopf, darüber hing ein Messingschild: „O.B.Y.-Partyservice“ und eine aufgeklappte Miesmuschel als Logo. Die Vornamen lasen sich wie eine moderne Version der antiken drei Grazien. Olivia, Bella und Yvonne betrieben eine Cateringfirma und hatten mehrmals meine Freundin Marion beliefert, wenn sie Vernissagen veranstaltete. Seit ewigen Zeiten führte die Witwe des Bildhauers Friedrich Vondembusche am Rosenplatz eine Galerie mit Aquarellen, Silberschmuck und Collagen und war, was Cateringdienste betraf, ein ganz kitzeliger Gaumen. „O. B. Y.! ‚Only the Best for You!‘“ Dann hatte sie von dem Meeresfrüchte-Büffet des Trios geschwärmt.
press
Detailgenauigkeit ist die Stärke ihrer Bücher. [...] Deshalb können sich die Leser schon heute auf einen weiteren Regionalkrimi von Ursula Meyer freuen.
Hildegard Zajac in: Die Glocke, 21.10.2006